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Arbeiten auf dem Weihnachtsmarkt. Das hatte Jutta sich anders vorgestellt. Hier stand sie nun seit Anfang September und öffnete Kartons. Schlitzte palettenweise dicke Pappe auf, packte Weihnachtsartikel aus und befüllte Rollwagen mit Hunderten verschiedenen Dekorationsartikeln. Hier im Gartencenter, wo bis vor wenigen Tagen noch die Terrassenmöbel, die Sonnenschirme und die Liegestühle standen, wurde jetzt der Weihnachtsmarkt aufgebaut. Die Augen der Kollegin funkelten vor Begeisterung, als sie ihr, der neuen Mitarbeiterin, erklärte, wo die Lichterketten, die Kerzen, das Dekorationsmaterial für Adventsschmuck und Krippen, wo die Weihnachtsbäume aufgestellt würden. Dick verpackte Paletten standen reihenweise in der Ecke und warteten darauf, ausgepackt zu werden. Jutta nahm das Cuttermesser und schlitzte den nächsten Karton auf. Die doppelte Pappe schützte den Inhalt, der aus vielen weiteren kleinen Kartons bestand. Sie nahm die kleinen Kartons einzeln in die Hand und packte sie vorsichtig aus. Sie schälte eine rot leuchtende Weihnachtskugel aus dem Seidenpapier, das noch zusätzlich mit einer Plastikfolie geschützt war. Sie besah sich die Menge an Verpackungsmüll. Für eine einzige, wenn auch zerbrechliche Kugel, war dieser Haufen Abfall beachtlich. „Made in India“, stand auf der Kartonage. Im Laufe ihrer Schicht schmolzen die Pakete auf der Palette dahin. Im Regal an der Wand reihten sich jetzt die bunt sortierten Christbaumkugeln: Dickbäuchig, klein oder groß, glänzend, matt schillernd, mit Glitzer dekoriert, für jeden Geschmack einen individuellen Weihnachtsschmuck.
Es gefiel ihr, was sie sah. Am nächsten Tag wiederholte sich die Arbeit. Heute waren Kerzen in den vielen Dutzend Pappkistchen auf der Palette. Dochtkerzen, Stumpenkerzen, Bienenwachskerzen in allen Schattierungen. „Die Trendfarbe des Jahres ist Rosa“, erklärte die Kollegin, die schon im Frühling die Artikel für den Weihnachtsmarkt auf der Messe eingekauft hatte.
Jutta betrachtete ihre Arbeit, betrachtete die Regale, die sich nach zwei Monaten Einräumerei in einen Weihnachtsmarkt verwandelt hatten und schon Anfang November gut besucht war. War es Kitsch oder Kunst? Spritzgussobjekte, Plastikfiguren, manches im Holzschnitz. Bunt lackierte Schneemänner, Engel und Christusfiguren. Das Rentier mit Schlitten in Lebensgröße für den Vorgarten, Adventskränze und Krippenfiguren, Kunstschnee und Sternenstaub, Lametta und Lichterketten. Manche App-gesteuert mit knallbunter LED- Lichtorgel, einige elektrische Kerzen im Retrolook der 60er Jahre für die Fensterbank. Hier gab es einfach alles.
Konsumrausch, wohin sie blickte. Weihnachtsschmuck aus dem Fichtelgebirge und aus Fernost. Genug um jedes Wohnzimmer dieser Welt in eine Weihnachtsoase der Glückseligkeit zu verwandeln. Jutta fühlte sich schlecht, wenn sie daran dachte, wie viele Möbelhäuser, Baumärkte, Drogerien und Supermärkte sich zu Weihnachten mit diesem Kitsch aufrüsteten, der außerdem teuer war. Vor ihrem geistigen Auge wuchsen die Müllberge aus Plastik und Papier bis in den Himmel hinein und versperrten den Blick auf das Wesentliche: Die Weihnachtsgeschichte, das Fest der Liebe, die jährliche Zusammenkunft der Familie und die gemeinsamen Rituale, die sie seit ihrer Kindheit mit Weihnachten verband.
Wenn Jutta die Augen schloss, dann schnupperte sie noch den Tannennadelduft, wenn sie mit dem Vater im tief verschneiten Wald den Weihnachtsbaum schlagen durfte. Sie dachte an ihre jährlichen Streifzüge durch den Wald und Wiesen, wenn sie Moos, Tannenzapfen und Früchte sammelte, trocknete und daraus Kränze aus Naturmaterialien flocht.
Hier im Weihnachtsmarkt des Gartencenters war davon nichts zu spüren. Es roch nach Plastik und Chemie. Die Gerüche, die eine künstliche Welt ausdünstete und sich wie eine Glocke über die Wahrnehmung der Menschen stülpte. Als dann die künstlichen Weihnachtsbäume, gut verpackt in langen Kartons kamen, beschloss Jutta zu kündigen, so schnell wie möglich.
»Jedes Modell bitte einmal aufbauen, mit einer Lichterkette und bunten Kugeln dekorieren«, lautete ihre neue Aufgabe. Jutta mühte sich ab. Die ersten Bäume glückten noch nicht. Ein Kunstbaum war wie ein Skelett aus vielen einzelnen Gliedern, die man von unten nach oben zusammensteckte. Danach hängte man die Äste bis zur Tannenspitze ein und fächerte die biegsamen Tannennadeln auf. Schließlich stand der fertige Weihnachtsbaum vor ihr. Nicht alle waren grün. Es gab auch silberne, goldene und natürlich auch einen rosa Weihnachtsbaum. Mit Kunstschnee und glitzernden blinkenden Lichterketten drapiert, sahen sie gar nicht so übel aus. Vorsicht, ermahnte sich Jutta. Du bist schon infiziert von dieser bunten Kitschwelt. Lass dich nicht verblenden!
Als sie Ende November alles fertig aufgebaut hatte, machte ihr die Beratung der Kunden Spaß. Kannte sie doch jetzt die Besonderheiten der vielen verschiedenen Lichterketten und alle Raffinessen der Weihnachtsbäume.
Der richtige Weihnachtsbaum musste es sein. Ungefährlich für kleine Kinder und standhaft bei Haustieren, groß genug für das moderne Wohnzimmer und handlich genug für die gehbehinderte Seniorin. Jutta wurde nachdenklich.
Vielleicht war ein künstlicher Tannenbaum, der 20 Jahre das Weihnachtsfest dekorierte, nachhaltiger als ein frisch geschlagener Baum aus der Waldschonung, der spätestens am 6. Januar entsorgt wurde? Wer machte die Rechnung auf? Juttas Gedanken verwirrten sich wie altes Lametta im Christbaum.
Vielleicht hatte sich die Welt verändert und die Weihnachtsbräuche der Kindheit funktionierten nicht mehr bei acht Milliarden Menschen auf dem Planeten?
Wie sie so nachsann und an die Töchter und Söhne dachte, die bei ihr ein kleines künstliches Weihnachtsbäumchen für die Oma kauften, da kam ihr das gar nicht mehr so schlimm vor.
Wahrscheinlich ging auch mit einem Plastikbäumchen ein Stück Himmel auf, wenn man alt und krank oder alleine zu Weihnachten war.
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© Andrea Lachmuth