Sternstunden | Kindheitsglitzern

»Der Tag ist nun vergangen, die güldnen Sternlein prangen am blauen Himmelssaal«, singt Mutti. Dann beten wir »Breit aus die Flügel beide«. Mutti gibt mir einen Kuss und deckt mich mit einer bunten Wolldecke zu.
… meine Freude … verschlingen … Englein singen … selig schlafen … Engel Schar schlafen … Engel Schar schlafen … schlafen … schla …

Es rumpelt. Mutti knipst das Licht an.
»Raus aus die Büsch!« Ja, wie ein Hase bin ich in meinem Bettenbau vergraben. An der Wand glitzern kleine Sterne. Sind die vom Himmel in mein Zimmer gefallen? Mutti hat schon mein Winterzeug in die Küche getragen. Das dicke Unterhemd. Die lange Wollunterhose. Der Badeofen bollert nicht. Aus dem Hahn flüssiges Eis. Katzenwäsche. Zahnpasta mit Erdbeergeschmack. Mutti stopft mich in die Anziehsachen, und ich sitze auf der Eckbank. Der Küchenherd prasselt. Auf dem kleinen Ring steht der Milchtopf. Haferflocken und Kakao für mich. Ich bin so müde, dass ich nur mit dem Löffel in den Flocken herummansche. Mutti steht hinter mir. »Iss!«
Sie streicht mir ein Butterbrot mit Wurst, gibt es in die Blechbüchse und legt Apfelschnitze dazu. Schuhe, Mantel an, Bommelmütze auf. Ich stapfe zur Tür hinaus.
»Vergiss den Schlitten nicht«, ruft Mutti mir nach. Den vergess ich bestimmt nicht. Nach der Pause fährt die Steinbeißer nämlich mit uns Schlitten. Ich habe einen Hörnerschlitten. Die gebogenen Hörner machen, dass der Schlitten sich nicht aufspießt und sich überschlägt, wenn es über einen Graben geht. Wo ich sitze, sind keine Latten angeschraubt. Da ist ein Geflecht aus breiten, grünen Bändern. Ich sitze bequem. Mein Schlitten ist auch ein wenig länger als die für ein Kind. Den Schlitten hat Vati beim Sattler gekauft. »Unverwüstlich«, hat der Sattler gesagt. Der Schotterweg zur Schule ist tief verschneit. Da hat Frau Holle mächtig ihre Betten ausschütteln lassen. Noch schüttelt sie höllisch. Wie kleine Nägel aus Eis beißen sich Schneegeschosse in meine Augen. Stecknadelkopfgroß. Die Augen brennen. Sehe wenig. Zwicke sie zusammen. Sehe nichts. Höre dumpfes Grollen. In einer mächtigen Schneewolke kommt ein Monster herangedonnert. Es ist der Krapf mit seinem Bulldog. Hinten hat er einen schweren dreieckigen Kasten drangemacht. Kann der Krapf mich sehen? Mit einem Sprung rette ich mich mit meinem Schlitten über den Bordstein in die Einfahrt der Wohlfahrts. Wadenhoch stehe ich in einer Schneewand. Mein Schlitten begraben. Als der Krapf an mir vorbei ist, hupt er. Depp. Keine Hilfe mehr. Ich erschrecke bloß.

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Die Steinbeißer übt mit uns das Einmaleins. Keiner weiß, was sieben mal acht ist. Ich schon. Scheppern der Glocke. Pause. Ich beiße in mein Wurstbrot mit Gelbwurst und Gurke. Die Steinbeißer predigt uns was. »Bahn frei rufen. Nicht zu knapp nacheinander losfahren. Keine Baucher. Nicht über die Sprungschanze. Niemals« Da sind wir schon bei unseren Schlitten. Dann treibt sie uns den Bahndamm hoch durch die Unterführung. Gleich dahinter geht es die Höllenschlucht zu einem Wäldchen runter. Die Steinbeißer treibt uns jedoch weiter zu einem Hügel, wo es flacher ist. Wir sausen runter und ziehen die Schlitten um die Wette hoch. Je schneller, desto öfter. Natürlich muss der Schwab über die Sprungschanze fahren. Sein dicker Hintern passt nicht richtig auf den Schlitten. Auf einer Seite hängt er runter. Schräg kommt er auf die Schanze. Toll wie sein Schlitten abhebt und fliegt und fliegt. Und aufkommt auf einer Kufe. Sie bricht ihm weg. Latten auch. Der Schwab rutscht mit dem Hintern auf der Bahn wie ein Kreisel. Sein Schlitten, jetzt Brennholz, hinterher. Die Steinbeißer plärrt. Den Schwab juckt das nicht. Er lacht. Der Sohn vom Metzger darf viel mehr als ich. Die Steinbeißer beruhigt sich erst, als die Glocken Mittag läuten. Sie klatscht. Letzte Fahrt. Mit ausgestreckten Bremserbeinen rodeln wir die Bahndammstraße runter und traben zurück zur Schule. Wie Schneewichtel schaun wir aus. An den Hosen der Jungen hängt eine Schneeeiskruste, an den derben, braunen Wollstrümpfen der Mädchen auch. Den Siedlungsweg wieder hoch nach Hause. Wie mit Zimt bestreut schaut er aus. Es ist Schmutz. Die Nachbarn haben ihre Aschekästen auf den Weg geleert. Das hilft nicht lang. Frau Holle wird wieder die Betten schütteln, und der Krapf wird durch den Weg donnern.

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»Wie schaust du denn aus, Peter?«, begrüßt mich Mutti. Was meint sie? Bestimmt nichts Gutes. Sie schält mich aus meiner durchweichten Wollhose und reicht mir trockene Anziehsachen. Ich schlinge gleich zwei Pfannkuchen mit Apfelmus hinunter. Keine Zeit. Ich muss mit dem Schlitten raus zur Todesbahn.
»Nix da«, sagt Mutti, »wir machen Weihnachtssterne aus Stroh.«
Sie hat Strohhalme im Kartoffeltopf gekocht, über Nacht liegen lassen und in einem dicken Buch gepresst. Sie schneidet das Stroh handlang bis handbreit. Sie legt die Halme übereinander und flicht und wickelt mit dem Bindfaden. Später gelingt das auch mir. Nur den festen Abschlussknoten muss Mutti machen. Mit der Schere stutzen wir die Sterne dann zu schönen Formen. »Da wird sich das Christkind aber freuen.«

Strohstern an einem Christbaum

Ich freue mich aber nicht. Ich darf immer noch nicht zur Höllenschlucht. Jetzt kommen die Plätzchen dran, beschließt Mutti. Wie flink sie den Teig knetet. Aus einem Fläschchen schleudert sie Tropfen heraus, Arrak, und rollt den Teig aus. Ich darf die Sterneplätzchen ausstechen und die Schüssel ausschlecken. Mit der Todesbahn hinter dem Bahndamm wird es nichts mehr. Ich muss ins Dorf zur Bergmann die Westen für die Knopflöcher abgeben. Frau Bergmann hat ein niedriges Haus im Dorf, wo die Ziegen direkt hinter dem Wohnzimmer schlafen. Ein Wohnzimmer mit Ziegenheizung. Toll.

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Es dämmert bereits, als ich zur Siedlung zurück das steile Stück beim summenden Transformatorhaus hochstapfe. Hupen. Vati kommt von seiner Tour zurück. Er lässt mich einsteigen. Den Schlitten tun wir hinten rein. Die Räder am Goliath drehen durch. Wir schaffen den Berg nicht. »Diese verd… Schlittenfahrer«, schimpft Vati und schaut zu mir. Dadurch fährt der Goliath auch nicht hoch. Der Nüsslein stapft vorbei. Der Nüsslein ist ein lieber Bauer, bei dem ich die Milch hole. Außerdem darf er beim Karteln Vatis Brunskartler sein, wenn er zuvor nicht Kiebitz war. Als Kiebitz würde er das Blatt der andern kennen, und das geht natürlich nicht. Kommt er mit seinem Ochsen? Auf keinen Fall. Wenn es den Oxen hinlegt, und der sich die Haxen bricht, kann er ihn doch nicht eingipsen. An so einem Ochsen isst man lang, sagt der Nüsslein, und er mag nicht jeden Tag Ochsen essen. Es hilft alles nichts. Jetzt müssen wir doch zum Krapf. Mit dem Krapf spielt Vati nie Karten. Der Krapf muss kommen mit seinem Bulldog.
»Wo bleibst du nur so lang, Peter? Wo bleibst du nur so lang, Paul?«, sagt Mutti und schnauft. Vati winkt ab. Mutti trägt die Koffer mit den Pullovern ins Haus.

»Paul, kommst du?« Vati sagt nichts. Er zieht mich auf die Wiese. Späht. Sucht er Mohrle? Er deutet in den Himmel.

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»Siehst du die vier Sterne da mit den drei Sternen in der Mitte, die so quer sind?«
Der ganze Himmel glitzert. Fast tut es weh. Ich suche sie. Schließlich finde ich sie.
»Das ist der Orion«, sagt Vati, »der Orion mit dem Schwertgehänge.«
»Und wer hat die Sterne da angemacht?«
»Der liebe Gott natürlich. Der hat sie an das Himmelszelt genagelt.«
»Genagelt?«
»Ja, Gott ist allmächtig. – Die Sterne bewegen sich nicht. Sie sind fixiert. Sie sind fix. Deshalb heißen sie auch Fixsterne.«
»Aber der bewegt sich.«
»Kann nicht sein. – Doch du hast Recht. Das ist der Sputnik von dem Russen.«
»Und der Russe hat seinen Sputnik nicht an den Himmel genagelt? – Ist der Russe so etwas wie …«

»Lasst uns vespern«, sagt Vati. Mutti und Vati essen Wurst- und Käsebrote mit Gewürzgurken. Ich bekomme einen eckigen Schmelzkäse mit Champignon. Mutti spült ab. Ich lege mit Vati Domino. Dann spielen wir zusammen noch drei Runden Maumau. Es geht ab nach Betthausen. Mutti liest mir ein Märchen vor. Nicht das mit dem bösen Wolf, der die Großmutter frisst. Sondern das mit dem Mädchen, das alles hergeschenkt hat. Wo die Sterne vom Himmel fallen und die Sterne dann ganz viel Geld werden.

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Mutti zupft mir die Wolldecke zurecht und betet:

»Breit aus die Flügel beide,
o Jesu, meine Freude,
und nimm dein Küchlein ein.
Will Satan mich verschlingen,
so lass die Englein singen:
›Dies Kind soll unverletzet sein‹.«

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